Das Buch der Freude

Sommer in Hamburg (2018)

Endlich frei. 14 freie Tage und 397 Seiten lesen. Weihnachtszeit und bald das Jahr 2024 - endlich!

Ich hatte mich unglaublich nach Ruhe, Natur und nach Gesprächen mit Menschen gesehnt, die sonst nicht hautnah in meinem alltäglichen Rumtreiben da sind. Auf meiner Odyssee nach Hause (insgesamt 11,5 Stunden, davon Vier stehend im Flur, Fünf sitzend im Flur und Drei schlafend in einem Vierer) lernte ich viele Fremde kennen. Mit Einigen davon führte ich nette und tiefere Gespräche, aber meistens lauschte ich genervt den besonders Lauten.

Wo ich das Buch von Douglas Abrams auch in die Hand nahm und einige Seiten davon las, konnte ich neugierige Blicke neben und gegenüber von mir beobachten. Es schien als ob „Freude“ oder vielleicht auch „Vorfreude“ in Anbetracht der bevorstehenden Weihnachtszeit bei vielen auf Resonanz stieß. Oder umgekehrt: welch Ironie ein Buch über Freude, in einem überfüllten Zug, bei stickiger Luft und unter lauter Fremden zu lesen. Zumindest traute sich schließlich ein etwas älterer Mann, schätzungsweise 65 Jahre und ehemaliger Hausarzt und Sportmediziner, mich zu fragen: „Worum geht es in dem Buch? Können Sie das empfehlen?“.

Zunächst erzählte ich ihm, dass ich im September eine zehnmonatige Bewegungstrainer:innen-Ausbildung gestartet hatte und im Rahmen dieser, verschiedene Bücher las. Als Sportmediziner, eine Zusatzqualifikation, die er nur des Spaßes wegen gemacht hatte, fiel es ihm schwer zu verstehen, was Movement konkret sei und insbesondere wo ich damit später mal beruflich hinwolle. Auf dieses Fragezeichen im Gesicht stoße ich oft.

Im Laufe des Gespräches kamen wir jedoch zusammen zu dem Schluss, dass ich Movement in erster Linie aus dem gleichen Grund verfolgte, wie er die sportmedizinische Zusatzqualifikation damals begonnen hatte: der Freude an Bewegung wegen. Und obwohl diese Worte so abgedroschen klingen, sind es genau die Gefühle wie sie im Buch beschrieben stehen, die ich in Bewegung erlebe: Vergnügtheit, Zufriedenheit, Erregung, Erleichterung, Dankbarkeit, Jubel, Ekstase, Staunen und hin und wieder auch mal Schadenfreude. Der herzliche Austausch mit dem Hausarzt half mir dabei zu verinnerlichen, dass das Einzige, das ich dafür brauche schon da ist. Bewegung fiel mir schon immer leicht und füllte schon immer meinen Alltag, was vermutlich der Bewegungsbegeisterung meines direkten Umfelds zu verdanken ist. Auf die Frage „Was möchtest du damit mal beruflich machen?“ fiel mir jedoch keine für mich ausreichend passende Antwort ein. Vielmehr kam der Gedanke auf „Möchte ich überhaupt beruflich damit etwas machen?“, aus der Angst heraus, die Freude an Bewegung zu verlieren. Als ich dann vor wenigen Tagen den Newsletter von Tom Weksler las, konnte ich mein Gedanken-Wirrwarr, nicht nur um eine Perspektive erweitern, sondern vielmehr auflösen:

Realizing we “automatically” follow a physical path with every life challenge, many times without consciously engaging, can reveal many deficits and powers we have inside. The physical practice is the ritual of seeing these things, giving them the eye level gaze that they deserve. They are not “work” just as much as they are not a “creation”. They are our natural perspective mechanism that consequentially become our actions, identities and destinies. I´ve found that moving with them daily is a fair compromise for living with them in peace
— Tom Weksler

Bei dem Gefühl Schadenfreude bin ich aufgrund einer Studie, die ich neulich gelesen habe, hängengeblieben. Sie passt zufälligerweise zudem, worüber die beiden Herren in dem Buch sprechen. In dem wissenschaftlichen Journal von 2009 beschreiben Liebermann und Eisenberger anschaulich, wie unser Gehirn Freude und Schmerz verarbeitet. Zur Vereinfachung teilen sie die Areale in ein Schmerz- und ein Freudenetzwerk auf und beschreiben unter welchen Umständen diese aktiviert werden. Erstaunlicherweise stellten sie fest, dass das Gehirn nicht zwischen sozialen und körperlichen Reizen unterscheidet beziehungsweise dass soziale Schmerzen „messbar“ sind. Körperliche Schmerzen werden demnach zusammen mit Ausgrenzung, Trauer nach Verlust, Benachteiligung sowie negative soziale Vergleiche dem Schmerznetzwerk zugeordnet. Körperliches Wohlsein wiederum zusammen mit einen guten Ruf genießen, gleichwertige Behandlung, Kooperation, Wohltätigkeit und auch Schadenfreude dem sogenannten Freudenetzwerk. Im biologischen Sinne ist Schadenfreude somit für die Person, die sie empfindet alles andere als ungesund, sondern eher ein kostenloser Cocktail an Glückshormonen. Daher könnte man meiner Meinung nach die Beschreibung im Buch „das ungesunde Sichergötzen am Leid anderer“ etwas liebevoller ausdrücken. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass diese Momente mit der richtigen Person zwischenmenschliche Verbundenheit stärkt und nicht schwächt. Darüber sprachen Dalai Lama und Desmond Tutu im Zusammenhang von Humor, ein Kapitel, das ich besonders gerne gelesen habe.

„Es ist viel besser, wenn nicht allzu viel Ernsthaftigkeit herrscht. Zu lachen und zu scherzen ist viel besser. […], wenn man von ganzem Herzen – und nicht etwa gekünstelt – lacht, dann ist das sehr gut für das Herz und für die Gesundheit insgesamt. […] Lachen soll die direkteste Verbindung zwischen zwei Menschen sein
— Desmond Tutu

Für mehr Leichtigkeit im Leben können wir bei uns selbst beginnen, wie der Erzbischof mit folgenden Worten klarstellt: „Wenn wir nur lernen, uns selbst ein bisschen weniger erst zu nehmen, dann ist das sehr hilfreich. Wir sehen, wie lächerlich wir uns verhalten“. Mir wurde schon häufiger gesagt, dass ich über mich selbst lachen kann. Ich glaube, dass mir hierfür die knallharte Ehrlichkeit meiner Geschwister geholfen hat. Unbarmherzig und dennoch vertrauensvoll haben wir uns über all unsere Macken lustig gemacht und uns damit regelrecht für die eigene Lächerlichkeit einen Spiegel vorgehalten.

Um jedoch auf die eingangs erwähnte Studie zurückzukommen, würde ich die Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen: das Essen von Schokolade ist gleichzusetzen mit dem Empfangen von Komplimenten und ein Tritt ans Schienbein ähnelt dem Effekt einer ernst gemeinten Beleidigung. Schlussfolgern lassen sich einerseits die Gleichstellung der körperlichen und seelischen Gesundheit (Dalai Lama: „Geistiger Schmerz ist genauso schlimm wie körperlicher […]“), wie es gesellschaftlich leider noch nicht ausreichend passiert, und andererseits die Wichtigkeit eines wohlwollenden und sozialen Miteinanders. Das Buch und insbesondere das Kapitel „Schönes entsteht nicht ohne ein wenig Leiden“ liefern in Bezug auf die Ergebnisse dieser Studie eine andere beziehungsweise weitere Betrachtungsweise. Danach sind Freude und Schmerz keine parallellaufenden oder direkt voneinander abgrenzbare, sondern vielmehr nacheinander und oft über einen langen Zeitraum ablaufende Gefühlsebenen, die eine Haltungsveränderung mit sich ziehen. Anders gesagt:

„Ein bisschen Leid – mag es auch intensiv sein – ist ein notweniger Bestandteil des Lebens, denn es hilft, Mitgefühl zu entwickeln. Nelson Mandela wurde durch das Leiden im Gefängnis großherziger und konnte auch der anderen Seite zuhören. Er entdeckte, dass diejenigen, die er als Feinde ansah, auch Menschen wie er waren, mit Ängsten und Erwartungen. Ohne diese siebenundzwanzig Jahre, glaube ich, hätten wir niemals einen derart mitfühlenden, großherzigen und einfühlsamen Nelson Mandela erlebt. […] Sorge und Mitgefühl für das Wohlbefinden anderer sind die Quelle des Glücks“.
— Desmond Tutu

Neben den realen Gesprächen, die ich auf meiner Reise führte, verfolgte ich also auch in Gedanken einem ganz besonderen Gespräch und begab mich dabei rückblickend auf eine eigene innerliche Reise. Das viertägige Gespräch zwischen den „zwei bedeutendsten Leitfiguren unserer Zeit“.

Ich hatte mich für dieses Buch entschieden, weil ich sehr neugierig darauf war, das Thema mit dem ich mich viel beschäftige, aus buddhistischer und christlicher Perspektive kennenzulernen. Diese Neugierde in mir, wurde gerade deshalb geweckt, weil der Austausch der Beiden mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergänzt wurde. Dies half mir dabei das Gesagte besser zu verstehen und für mich und mein Leben zu begreifen. Und gleichzeitig wurden in mir so viele Fragen geweckt, die ich mit Freunden teilweise vergeblich versuchte zu beantworten. Letztendlich ist es aber vielleicht genauso, wie eine Frau in einem meiner Workshops einmal sagte: „Ganz ehrlich, du musst einfach nur schlau genug sein, um das für dich herauszuziehen, das dir in dem Moment oder im Leben gerade hilft, egal ob Wissenschaft oder Religion“. Ich finde damit hat sie es eigentlich auf den Punkt gebracht.

Das Jahr 2023 war enorm von Krisen und Katastrophen geprägt, und auch in meinem persönlichen Leben hatte ich einige Berge zu erklimmen, sodass mein Maß an Frustration dauerhaft überschritten war. Das authentische und menschliche Miteinander sowie die Wertschätzung füreinander, obwohl sie nicht immer derselben Meinung waren, empfand ich als total erfrischend. Es zeigte mir auf, wie wichtig eine Haltung wie diese ist, damit ein friedliches Zusammenleben auf dieser Welt möglich ist. Ich verlor mich zunächst in der Unendlichkeit von Informationen im Netz, um mehr über die Leben dieser prominenten Persönlichkeiten zu erfahren. Dabei gönnte ich mir selbst etwas Nachhilfe zu der Historie von China und Tibet sowie zu dem Apartheid-Regime in Südafrika. Vor dem Hintergrund der persönlichen Geschichten von Dalai Lama und Desmond Tutu, klingen die Aussagen der Beiden nicht wie die, die man überall auf Socialmedia und in Selbsthilfebücher lesen kann:

Nach einem weiteren tibetischen Sprichwort sind es tatsächlich die schmerzlichen Erfahrungen, die ein Licht auf das Wesen des Glücks werfen, weil sie einen scharfen Kontrast zu den erfreulichen Erfahrungen bilden (Dalai Lama, S. 160)“. Oder zu dem, was man als Individuum konkret tun kann, um im Chaos Ruhe zu finden: „Ihr werdet in dem Augenblick von der Freude überrascht, in dem ihr aufhört, zu selbstverliebt zu sein (Desmond Tutu, S. 165)“.

Und nun wo die 397 Seiten gelesen sind und das Gespräch weiterhin nachhallt, sind es die zukünftigen Momente und Handlungen, auf die es ankommt. Die Schwierigkeit liegt immer darin, sich (meistens in unangenehmen) Situationen daran zurückzuerinnern und danach zu agieren. Vielleicht ist es ja so, dass „geistige Immunität“ den Raum zwischen Aktion und Reaktion, um eine Millisekunde erweitert, um „angemessen“ zu reagieren. Und Desmond Tutus Worte werden dabei helfen, den Kummer im Falle einer weniger angemessenen Reaktion zu mildern, denn diese sind allzu oft einfach menschlich.

Zurück
Zurück

Breath - Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens

Weiter
Weiter

Der Prophet