Der Prophet
Für Sabine (2019)
Mit 26 Lebensweisheiten greift Khalil Gibran in seinem Buch eine Multidimensionalität auf, die meiner Vorstellung von Gesundheit gleicht.
Für den ersten Buchreport der Movement-Ausbildung habe ich mich für das Buch „Der Prophet“ von Khalil Gibran entschieden. Im Laufe dieser Zeit möchte ich verschiedene Perspektiven auf die Themen Bewegung, das Menschsein und damit auf das alltägliche Leben einnehmen, die sich von meiner gewohnten wissenschaftlichen Sichtweise auf die Dinge unterscheiden. Menschen ganzheitlich in den Blick zu nehmen, habe ich in meinem Studium der Angewandten Gesundheitswissenschaften verinnerlichen und als Resilienztrainerin praktisch ausüben dürfen. Als angehende Movementtrainerin weiß ich, dass Bewegung nicht nur physisch, sondern auch mental, emotional und in unserem sozialen Kontext stattfindet.
Warum “Der Prophet”? Khalil Gibran war ein libanesisch-US-amerikanischer Dichter, Philosoph und Maler. Wie ich nun über ihn lesen durfte, starb er 1931 schon mit 48 Jahren in New York. Sein Buch erschien 1923 und gilt als sein bekanntestes Werk. Bevor ich mit dem Lesen begann, laß ich Rezensionen wie “seine poetische und sprachlich malerische Erzählweise ist packend”. Als Kunstfan dachte ich: “Ok. Warum nicht?”. Somit würde ich zukünftig Textpassagen zitieren, um die Inhalte und das Erlebte für meine Teilnehmende greifbarer zu machen: eine Inspirationsquelle.
Die Rahmenerzählung des Buchinhaltes bildet die Geschichte des Propheten Almustafa, der zwölf Jahre auf sein Schiff gewartet hat, das ihn zurück in seine Heimat bringen soll. Vor seiner Abreise bitten ihn die Einwohner:innen des Dorfes Orphalese, ihnen seine Lebensweisheiten zu 26 verschiedenen Themen zu erzählen. Beginnend mit der Liebe erzählt Almustafa unter anderem von der Ehe, der Freiheit, von Vernunft und Leidenschaft, der Selbsterkenntnis sowie von Freundschaft und endet schließlich mit dem Tod.
Unabhängig von dem, was Khalil Gibran inhaltlich beschreibt, war mein allererster und kritischer Gedanke: Warum hat er als Format für das Teilen der Lebensweisheiten 26 Reden und nicht 26 Gespräche mit den Einwohner:innen gewählt? Da ich ohne Glauben beziehungsweise eine Religionszugehörigkeit aufgewachsen bin, irritieren mich Geschichten, in denen Personen allwissend und als berufene Autorität dargestellt werden. Besonders widersprüchlich wirkt dieses Format in Anbetracht der folgenden zwei Sätze: „Leute von Orphalese, worüber könnte ich sprechen, wenn nicht von dem, was sich selbst jetzt in euren Seelen rührt.“ und „War ich ein Redner? War ich nicht auch ein Zuhörer?“.
Wenn ich die künstlerische beziehungsweise religiöse Vorstellung eines Propheten außer Acht lasse, hätte mir dennoch ein Austausch mit den Menschen besser gefallen. Ich bin der Meinung, dass in Gesprächen miteinander ungleiche Rollenverhältnisse entfallen und jede:r gleichermaßen von den eigenen Erfahrungen berichten kann. Im Rahmen meiner Arbeit führe ich mir immer wieder die Worte meiner Chefin vor Augen: „Habt Mut zu Bescheidenheit“. Damit meint sie eine Haltung, die voraussetzt, dass wir alle Lebensweisheiten in uns tragen, die wir in Gesprächen miteinander teilen können, um voneinander zu lernen. Auf diese Weise können wir uns auf Augenhöhe begegnen und wir alle können „Prophet:innen“ sein. Für eine bescheidene Haltung als Trainer:in und den Austausch mit den Menschen spricht außerdem der Satz, den Gibran im Kapitel „Vom Lehren“ aufgreift: „Wenn er wirklich weise ist, fordert er euch nicht auf, ins Haus seiner Weisheit einzutreten, sondern führt euch an die Schwelle eures eigenen Geistes.“
Das Buch beginnt mit einem Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Almustafa, der die Rückkehr des Schiffes schmerzvoll herbeigesehnt hat, jedoch auch große Traurigkeit verspürt, weil er das Leben in Orphalese zurücklassen wird. Das erste Kapitel „Die Ankunft des Schiffes“ zeigt daher eine sehr verletzliche Seite des Propheten und beschreibt einen Lebenszustand der großen Veränderung. An dieser Stelle greift für mich die Definition oder der beschreibende Satz für Movement: „Bewegung ist Leben und Leben ist Bewegung …“. Jedoch klingt dieser Satz eher romantisch und schön, sodass der Schmerz, der mit verändernden Lebensbedingungen einhergeht, ausgeblendet scheint. Gibran beschreibt diesen Zustand passend mit folgenden Worten: „Denn zu bleiben, auch wenn die Stunden in der Nacht brennen, hieße zu gefrieren und unbeweglich zu werden und in einer Form zu erstarren“.
Beim Lesen dieses Kapitels musste ich an eine Textpassage aus dem Buch „Seven and a half lessons about the brain“ von Lisa Feldman Barrett denken. Denn aus neurobiologischer Sicht bedeuten neue Lebensumstände das Erleben neuer Erfahrungen und damit auch die Entstehung neuer neuronaler Verknüpfungen in unserem Gehirn. Sie beschreibt eindrücklich, dass wir für Menschen und Orte starke neuronale Netzwerke bilden. Dies bedeutet wiederum, dass sobald wir diese aus verschiedenen Gründen (wie z.B. Umzug, Tod oder Trennung) verlassen oder auch verlassen werden, verblassen unsere neuronalen Netzwerke und wir haben buchstäblich das Gefühl einen Teil von uns zu verlieren. Somit ist Veränderung oft sowohl mit Freude, als auch Traurigkeit verbunden. Diese Zweiseitigkeit wird in dem ersten Kapitel sehr deutlich. Wir erleben ständig Veränderung in unserem Alltag.
Für mich persönlich habe ich am meisten aus den Texten zu den Themen Liebe, Freiheit, Freundschaft, Selbsterkenntnis sowie Vernunft und Leidenschaft gezogen. „Der Prophet“ ist ein Buch, das ich bestimmt in vielen Jahren nochmal zur Hand nehmen werde, um dann festzustellen, dass ich ganz anders über die Dinge denke als zum gegenwärtigen Zeitpunkt.